Delegierter Rechtsakt zu „grünem“ Wasserstoff der EU-Kommission – Zielkonflikte sind vorprogrammiert

Nach zweijähriger Diskussion hat die EU-Kommission den Delegierten Rechtsakt zu grünem Wasserstoff in der finalen Entwurfsfassung veröffent­licht.[1] Im COMINDIS Beitrag vom 11.08.2022 hatten wir bereits über den von der EU-Kommission am 20.05.2022 vorge­legten ersten Entwurf des delegierten Rechtsaktes zur Ergänzung der RED II-Richtlinie[2] berichtet.

Hintergrund

Der delegierte Rechtsakt regelt, unter welchen Voraussetzungen Wasserstoff­produzenten nachweisen können, dass ihr Energieträger als „grüner“ (bzw. „erneuerbarer“) Wasserstoff gilt. Der delegierte Rechtsakt soll damit einerseits Investitions­sicherheit und den schnellen Markthochlauf der grünen Wasserstoff­wirtschaft ermöglichen, andererseits aber auch die Grundlage für EU-weit vergleichbare Wettbewerbs­bedingung­en garantieren. Hierzu werden Anforderungen an den zur Wasser­stofferzeugung eingesetzten Strom normiert, der aus erneuerbaren Energien stammen muss („EE-Strom“). Die Kommission zielt auf einen Lenkungseffekt zur Dekarbonisierung ab. Dabei soll der Hochlauf des Wasserstoffwirtschaft gefördert und nicht ausgebremst werden. Diese ideologische Ambivalenz merkt man dem Entwurf an. Im Vorfeld sah sich der Entwurf aus der Industrie harscher Kritik ausgesetzt und auch zwischen EU-Kommission und Europä­ischen Parlament gab es divergierende Meinungen.

Bedeutung

Der delegierte Rechtsakt hat große Bedeutung für sämtliche EU-Mittel für erneuerbaren Wasserstoff. Er dient dabei zugleich als Orientierungshilfe für die Genehm­igung nationaler Beihilfe­n.

Die Kommission hat in den neuen Leitlinien für staatliche Klima-, Umweltschutz- und Energiebeihilfen (CEEAG)[3] festgelegt, dass die Vorschriften für staatliche Beihilfen an die strategischen Prioritäten der Kommission, insbesondere die im europäischen Green Deal und im Paket „Fit für 55“ angepasst werden müssen. Hierunter fällt auch die Erzeugung von erneuerbarem Wasserstoff.

Darüber hinaus genehmigte die Kommission am 15.07.2022 und am 21.09.2022 nach den EU-Beihilfevorschriften zwei wichtige Vorhaben von gemein­samem europäischem Interesse (IPCEI) im Bereich Wasserstoff. Mit den beiden Projekten werden bis zu € 10,6 Mrd. an Finanzmitteln bereit­gestellt. Ferner entwickeln verschiedene Mitglied­staaten wettbewerbsfähige Systeme, mit denen möglichst kostengünstige Projekte für erneuer­baren Wasserstoff ermöglicht werden sollen. Hinzuweisen ist hier insbesondere auf die H2Global Stiftung, die mit ihrer operativen Gesellschaft HINT.CO GmbH einen auktions­basierten Mechanismus zur Förderung eines zeitnahen und effektiven PtX-Marktes etabliert hat und weiter etablieren soll.

Nachdem bereits im Dezember 2022 eine erste Arbeitsfassung publik wurde, liegt nunmehr der Entwurf des delegierten Rechtsaktes in finaler Fassung vom 10.02.2023 vor. Die wesentlichen Neuerungen werden im Folgenden dargestellt.

  1. Nutzung von Netzstrom

Der delegierte Rechtsakt enthält eine Neuregelung hinsichtlich der Anrechnung von zur Wasser­stoffpro­duktion entnommenem Strom.

Bereits nach dem bisherigen Entwurf war die Nutzung von Netzstrom als EE-Strom möglich, wenn

  • der Strom aus einer bestimmte Gebotszone stammt, deren Anteil 90 % erneuerbaren Strom am Strommix erreicht oder
  • die Emissionsintensität des Stroms unter einem bestimmten Schwellenwert von 18 gCO2eq/MJ liegt (s. Art. 4 Abs. 1 und 3). Das ist insbesondere für Länder mit hohen Anteilen von Strom aus nuklearer Erzeugung, wie beispielsweise Frankreich, vorteilhaft.

In diesen Fällen sei es nicht erforderlich, das Netz durch zusätzliche Kapazitäten für die Stromerzeugung aus erneuer­baren Quellen aufzustocken, um die Emissionseinsparverpflichtung zu erfüllen.

Reduzierung von Redispatch-Maßnahmen

Als weiteren Tatbestand hat die Kommission eingeführt (s. Art. 4 Abs. 3), dass Strom auch dann als erneuerbar gilt, wenn der für die Produktion von grünem Wasserstoff verbrauchte Strom die Notwendigkeit von Redispatch-Maßnahmen redu­ziert und die Integration von erneuerbarem Strom in das Stromnetz fördert (Erwägungsgrund 7). Unter Redispatching versteht man Eingriffe in die Erzeugungsleistung von Kraft­werken, um Leitungsabschnitte vor einer Überlastung zu schützen. Droht an einer bestimmten Stelle im Netz ein Engpass, werden Kraftwerke diesseits des Engpasses angewiesen, ihre Einspei­sung zu drosseln, während Anlagen jenseits des Engpasses ihre Einspeise­leistung erhöhen müssen. Auf diese Weise wird ein Lastfluss erzeugt, der dem Engpass entgegenwirkt. Das Redispatch-Verfahren wird in Deutschland durch die Übertragungs- und die Verbundnetzbetreiber durch­geführt und von der Bundesnetz­agentur überwacht (sog. Redispatch 2.0 Melde­verfahren). Das Redispatching betrifft auch erneuerbare Energieerzeu­gungs­anlagen, insbesondere Windener­gieanlagen. Der Anteil des so verlorenen EE-Stroms – ganz überwiegend aus Windenergie – beträgt ca. 1% des gesamten Stromverbrauchs in Deutsch­land[4].

Grundsätzlich erscheint es daher sinnvoll, als zugelassenen EE-Strom auch Strommengen anzusehen, die Re­dispatch-Maßnahmen reduzieren. Aller­dings werden hierzu eine Reihe von praktischen Fragen und Nachweis­problemen entstehen. Der delegierte Rechtsakt verlangt, dass die Strommengen während einer „imbalance settlement period“ ver­braucht[5] und Nachweise seitens des Übertragungsnetzbetreibers vorgelegt werden. Wie diese Nachweise aus­zusehen haben, dazu verhält sich der Entwurf nicht.

Voraussetzung, unter der mit Netzstrom erzeugter Wasserstoff als vollständig erneuerbar gilt, war nach Art. 4 des Erstentwurfs insbesondere, dass ein Stromliefervertrag (Power Purchase Agreement, PPA) über eine EE-Strommenge geschlossen wird, die mindestens der entnommenen Netz­strommenge entspricht, die als vollständig erneuerbar angegeben wird. Der neue Entwurf (Art. 4 Abs. 2 a) stellt nun klar, dass ein solches PPA nicht zwingend mit dem Anlagenbetreiber selbst, sondern auch mit Intermediären geschlossen werden kann, was praxisgerecht ist.

Wenn die Voraussetzungen für Netzstrom als EE-Strom nicht erfüllt sind, muss der Betreiber die Bedingungen der Zusätzlichkeit sowie der zeitlichen und geografischen Korrelation beach­ten.

  1. Zusätzlichkeit („Additionality“)

Dem Kriterium der Zusätzlichkeit („Additionality“) (Art. 5 des Entwurfs) liegt der Fördergedanke zugrunde. Es soll ein Anreiz bestehen, den für die Produktion von Wasserstoff benötigten Strombedarf aus zusätzlich geschaffenen EE-Stromerzeugungs­kapazitäten zu decken. Sowohl der Ursprungsentwurf als auch der aktuelle Entwurf sehen vor, dass zwischen der Inbetriebnahme der EE-Anlage und der Anlage zur Erzeugung von Wasserstoff maximal 36 Monate liegen dürfen. Beide Entwürfe bestimmen ferner, dass die EE-Anlage finanziell ungefördert sein muss, sie darf also nicht bereits eine staatliche Betriebs- oder Investitionshilfe erhalten.

Von derartigen Förderungen nimmt der neue Entwurf nun – detaillierter als der Vorentwurf (Art. 4 Abs. 2 b))[6] – eine Reihe von Subventionsmaßnahmen aus. Art. 5 b) des neuen Entwurfs nennt konkret Beihilfen, die Anlagen vor ihrem Repowering erhalten, Förderungen, die an das jeweilige Grundstück oder den Netzanschluss anknüpfen oder Zuwen­dungen, die keine Netto-Förderung darstellen. Beispielhaft sollen unter letztere fallen: vollständig zurück­gezahlte Fördermittel und Fördermittel für Anlagen zur Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energien, die Anlagen versorgen, die erneuerbare flüssige und gasförmige Verkehrs­kraftstoffe nicht-biologischen Ursprungs erzeugen, die für Forschung, Erprobung und Demonstration genutzt werden.

Early Movers

Eine bedeutsame Neuerung ergibt sich mit Blick auf den Nachweiszeitpunkt: Nach dem Erstentwurf (Art. 7 Abs. 1) hatten Wasserstoffproduzenten schon ab dem 01.01.2027 den Nachweis zu erbringen, dass beide vorgenannten Bedingungen erfüllt sind. Demgegen­über sollen nach Art. 11 S.1 des neuen Entwurfs nun im Grundsatz Wasserstoff­erzeugungsanlagen, die vor dem 01.01.2028 in Betrieb gehen, befristet bis zum 01.01.2038 vollständig von dem Erfordernis der Zusätzlichkeit ausgen­ommen werden.

Die Zielsetzung ist somit, möglichst schnell – d.h. innerhalb der nächsten 6 Jahre – Wasserstofferzeugungsanlagen zu errichten und in Betrieb zu nehmen. Die EE-Erzeugungskapazitäten können dann erst nachträglich errichtet werden. Dieser Ansatz der Phasenverschiebung erscheint sinnvoll, da er zu einer Entzerrung der ohnehin komplexen Investitionslage führt. Problematisch ist allerdings, dass die Befreiung von der Zusätzlichkeit daran hängt, dass tatsächlich am 01.01.2028 Wasserstoff erzeugt wird. Kommt es zu Verzögerungen, die der Betreiber nicht zu vertreten hat, etwa aus dem Bereich der Genehmigungen oder infolge gestörter Bauabläufe, kann die Rückforderung von Subventionen drohen.

  1. Zeitliche Korrelation („Temporal correlation“)

Das Kriterium der zeitlichen Korrelation („Temporal correlation“) besagt, dass Zeitgleichheit zwischen der Stromerzeu­gung aus erneuerbaren Energien und der Herstellung des Wasserstoffs bestehen muss. Im Erstentwurf vorgesehen war, dass Wasserstoff­produzenten insoweit eine stündliche Korrelation bereits ab dem 01.01.2027 sicherzustellen haben (Art. 7 i.V.m. Art. 4 Abs. 2 c) (i) und (ii)). Der neue Entwurf verschiebt diesen Zeitpunkt grund­sätzlich auf den 01.01.2030 (Art. 6 Abs. 2)[7]. Bis dahin soll für die Erfüllung der zeitlichen Korrelation ausreichen, dass diese bezogen auf den Monat besteht (Art. 6 Abs. 1).

Ob diese Erleichterung unter Investi­tions­gesichtspunkten ausreichend ist, muss bezweifelt werden. Zwar macht die zeitliche Korrelation einen großen Unterschied für die Größe der Windparks und Solarkraftwerke, in die Wasserstoffproduzenten investieren müssen. Allerdings sind die Lebens­dauerzyklen derartiger Anlagen deutlich länger als 7 Jahre. Überdies verlangen Investoren Sicherheiten, dass die Sub­ventionsvoraussetzungen auch dauer­haft vorliegen oder jedenfalls ge­schaffen werden können. Erreicht ein Betreiber einer Wasserstoff-Erzeug­ungs­anlage das Kriterium der zeitlichen Korrelation bis zu dem vorgegebenen Zeitpunkt nicht, so wird der erzeugte Wasserstoff nicht mehr als „grün“ im Sinne der Subventionsvoraussetzungen angesehen. Die Folge können etwaige Rückforderungen öffentlicher Beihilfen oder Schadenersatzansprüche sein.

  1. Anlagenerweiterung bei Versorgung über Direktleitungen

Die Anrechnung von EE-Strom aus Stromerzeugungsanlagen, die mittels Direktleitungen mit der Wasserstoffer­zeu­gungsanlage verbunden sind, wird gegenüber dem Erstentwurf in einem Punkt erleichtert: Erweitert ein Wasser­stoffproduzent die Produktionskapazität der Anlage am selben Standort, soll er nun in vollem Umfang das EE-Privileg behalten können, wenn diese Er­weiterung innerhalb von 36 Monaten seit Inbetriebnahme der Anlage erfolgt (Art. 3 b)). Der Erstentwurf sah an derselben Stelle noch eine Frist von 24 Monaten vor.

  1. Sonstiges

Der neue Entwurf stellt nun in Art. 1 Abs. 1 S. 2 klar, dass die Bestimmungen des delegierten Rechtsakts nicht nur auf die Wasserstoffproduktion durch Elektro­lyse, sondern analog auch auf andere, weniger übliche Produktionswege an­wendbar sind. Insbesondere betrifft das die Wasserstofferzeugung mit Erdgas. Der neue Entwurf beinhaltet ferner eine allgemeine Öffnungsklausel (vgl. Art. 1 Abs. 2) zugunsten von Wasserstoffimporteuren: Auch Wasser­stoff, der außerhalb des Gebietes der EU produziert wird, soll zu den Konditionen des delegierten Rechtsaktes als „grün“ klassifiziert werden können.

Fazit

Dem delegierten Rechtsakt steht die Ambivalenz seiner Zielsetzungen deutlich auf die Stirn geschrieben. Der Rechtsakt ist ein Kompromiss zwischen den beteiligten politischen Interessen. Trotz der hohen Komplexität der Regelungen und dem damit verbundenen bürokratischen Aufwand ist er sicherlich stärker als seine Vorgänger­fassungen darauf ausge­richtet, den Hochlauf der grünen Wasser­stoffproduktion zu beschleu­nigen. Es bleibt abzuwarten, wie sich Lenkungstendenzen durch die komplexen Anforderungen im Bereich der zeitlichen Korrelation und Zusätz­lichkeit auswirken.

 

[1] COMMISSION DELEGATED REGULATION (EU) …/… of 10.02.2023 supplementing Directive (EU) 2018/2001 of the European Parliament and of the Council by establishing a Union methodology setting out detailed rules for the production of renewable liquid and gaseous transport fuels of non-biological origin; abrufbar unter https://energy.ec.europa.eu/delegated-regulation-union-methodology-rfnbos_de

[2] Richtlinie (EU) 2018/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates (Renewable Energy Directive II/RED II).

[3] Abrufbar unter: https://competition-policy.ec.europa.eu/sectors/energy-environment/legislation_en

[4] Die Bundesnetzagentur beziffert im Monitoringbericht 2022 den Anteil der durch Einspeisemanagement verursachten Ausfallarbeit von EEG-Anlagen im Jahr 2021 auf 5.817 GWh (davon 58 % OffshoreWind und 36% Onshore-Wind); vgl auch Kirrmann, Abregelung von Erneuerbaren Energien – kontraproduktiv und doch manchmal richtig, 11.09.2021; abrufbar unter https://blog.naturstrom.de/energiewende/abregelung-von-erneuerbaren-energien/

[5] Zur Definition verweist die Kommission auf die REGULATION (EU) 2019/943 OF THE EUROPEAN PARLIAMENT AND OF THE COUNCIL of 5 June 2019 on the internal market for electricity, Art. 2 Nr. 15

[6] Dort hieß es als Voraussetzung insoweit pauschaler: “[…] die Anlage zur Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energien keine Förderung in Form von Betriebs- oder Investitionsbeihilfen erhalten hat, wobei Förderungen, die Anlagen vor dem Repowering gemäß Artikel 2 Absatz 6 erhalten haben, und Förderungen, die keine Nettoförderung darstellen, wie z. B. vollständig zurückgezahlte Förderungen, ausgeschlossen sind“.

[7] Mitgliedsstaaten soll es allerdings gestattet sein, nach vorheriger Notifizierung durch die EU-Kommission bereits ab dem 01.01.2027 das Erfordernis einer stündlichen Korrelation für in ihrem Hoheitsgebiet produzierten Wasserstoff vorzusehen, Art. 6 Abs. 2 S. 2 des Entwurfs.

 

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